Searching for Aardvark - Bernd Bierbaum

AARDVARK! | 2021 |

Bernd Bierbaum |

Wenn du weißt, wie du deine Schritte setzen musst, kannst du von der einen Welt in die andere übertreten, an jedem Ort, zu jeder Zeit. Du musst nur die richtigen Träume träumen. Alles beginnt mit Träumen.

André Brink, Kupidos Chronik

Kapitel 1

13,8 Milliarden Jahre sind seit dem letzten Big Bang vergangen, 4,54 Milliarden seit der Entstehung des Planeten Erde und 4,5 Milliarden seitdem der Protoplanet Theia mit der Erde kollidierte und den Mond entstehen ließ. Kurz darauf schlugen Kometen und kosmischer Staub, die Wasser transportierten, auf der Erde ein und ermöglichten die Entwicklung des Lebens.

Seit der Geburt Franziska Winklers sind 46 Jahre vergangen. Vor 39 Jahren überlebte sie einen Blitzschlag. Vor vierzehn Jahren kamen ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben.

Jetzt ist es 3.09 Uhr, eine Minute bevor Franziska in einer Stadt am äußersten Rand der eurasisch-afrikanischen Landmassen aufwachen wird und — doch halt! Wir haben bereits viel zu viel verraten! Wir hätten nichts von Ereignissen berichten dürfen, die Franziska selbst ungern erwähnt. Sie mag es nicht, wenn fremde Menschen um ihre persönlichen Schicksalsschläge wissen.

Zwar geschieht es bisweilen, dass jemand sie auf die großflächigen Brandnarben an ihrem linken Bein anspricht, aber dann wehrt sie schnell ab und erzählt statt des Blitzes von einem Kessel heißen Wasser, der umkippte und sie verbrühte. Ob das nicht wehgetan habe? „Damals schon, aber heute nicht mehr,“ antwortet sie dann knapp. Mehr will sie nicht sagen, und warum sollten wir uns weiter über ihren Wunsch hinwegsetzen, ihre emotionalsten Erlebnisse nicht nach außen tragen zu wollen?

Franziska will anderen das Gefühl geben, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Ist es das etwa nicht? Sie möchte aus ihrer Vergangenheit keine Tragödie machen. Sie glaubt, dass sich die großen Veränderungen in ihrem Leben bereits zugetragen haben. „Was sollte jetzt noch Großes geschehen?“, fragt sie sich. Sie ist davon überzeugt, dass Menschen sehr viel weniger Einfluss auf die Welt haben, als sie sich vorstellen möchten. Sie findet, dass sich die meisten Menschen viel zu wichtig nehmen. Sie selbst würde gerne weniger über ihre Umgebung urteilen und sagt: „Ich versuche mein bestes Leben zu sein.“

Würde jemand fragen, was einen Menschen ausmacht, hätte sie noch vor wenigen Minuten geantwortet: „Lebendige Partikel, Zellen, Spurenelemente, Hormone und chemische Verbindungen aus Sauerstoff und Wasser, denen die Aufgabe gegeben wurde, ein Bewusstsein zu entwickeln.“ Das hört sich verrückt an, oder? Und weiter würde sie behaupten, „dass unsere Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Geschichten auf eine Erfindung emsiger und fröhlicher Bakterien und Pilze zurückgehen, die sich vor langer Zeit in unseren Körpern eingenistet haben und seitdem gespannt verfolgen, wie sich ihre Schöpfung entwickelt.“ Und: „Inzwischen sind diese Lebensformen in uns so weit mutiert, dass unsere Spezies nicht nur Götter erfindet, sondern sogar meint, über die ganze Welt bestimmen zu dürfen.“ Diese verwegenen Gedanken begegneten Franziska in einem Traum dieser Nacht, doch nun hat sie alles wieder vergessen. Das ist wohl auch besser so.

                               *

Der Tag hatte damit begonnen, dass ich viel zu früh aufgewacht war. Irgendetwas war anders gewesen. Ich fühlte mich fremd, ja falsch in meiner Umgebung und ohne Bezug. Eigenartig zusammenhangslos. Ich war in die Küche gegangen, hatte die Terrassentür geöffnet und in die Mitte der Nacht hinein gelauscht. Im Mondlicht sah ich den Devil‘s Peak, die Teufelsspitze. Die Luft war weich und feucht, sie roch nach Eukalyptus, kaltem Plankton und Jasmin. Dann bin ich losgefahren. Einfach so, einfach weg, ohne Ziel. Weil ich es musste.

Der Wagen steuerte sich wie von selbst entlang der Ufer des Liesbeek-Flusses. Die Zweige einiger Trauerweiden wurden von den Windböen hin- und hergerissen wie Peitschen, die durch die Luft schnalzen. Ich blickte hinauf zum Berg und zu den weißen Wolken, die von seinen Flanken zu Tal jagten. Auf der R300 fuhr ich an einer von Polizeiwagen abgesperrten Unfallstelle vorbei und erkannte auf einer Aluminiumdecke neben der Straße den abgetrennten Kopf eines Mannes. Er hatte zur Seite hin gelegen. Der Mund war geöffnet.

Ich öffnete das Fenster, schnappte nach Luft und versuchte das Bild schnell wieder aus dem  Kopf zu bekommen.

Schnell passierte ich Industrieanlagen und Weinfelder, fuhr durch den Huguenot-Tunnel und entlang der gezackten Umrisse der Hottentots-Holland-Berge. Kurz vor De Doorns glühte die Spur einer Sternschnuppe durch den Himmel. Mein Wunsch? Ich will, dass ich immer Wünsche habe, flüsterte eine Stimme in mir, kaum hörbar.

Drei Stunden später, am Abzweig nach Sutherland, an der Kluft der Verlassenheit, hatte ich am Rande der Straße angehalten und war ausgestiegen. Die trockene Erde unter mir schien zu wissen, dass in ihr die Kraft der Wiedergeburt steckt. Ein vorbeifahrender LKW ließ seinen Scheinwerfer kurz aufleuchten und hupte laut. Ich zuckte zusammen. Dann war er verschwunden, im ersten fahlen Licht des Morgens, und ich hockte da, in der schmalen Nische zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen vorwärts und zurück, zwischen einer in mir ruhenden Sicherheit und einer ungreifbaren Gefahr.

Warum sollte ich weiterfahren? Gerade hier?

Ohne es zu sehen, wusste ich, was vor mir in Richtung Sonnenaufgang lag: Zunächst die Karoo, diese vage umrissene Halbwüste. Dahinter Berge, Grasland, Flüsse und ein paar Städte; die Möglichkeit von Begegnungen, die dem willkürlichen Prinzip des Zufalls folgen. Ich fragte mich, ob eine Umkehr diesen ganzen Ausflug nicht belanglos machen würde? Oder, – könnte ich einfach so weiterfahren, um zu sehen was mir passiert?

Ich wanderte auf kugelrunde Termitenhügel zu, die so breit waren wie Mülltonnen. In ihrer Mitte hatten sich kreisförmige Löcher vom Ausmaß eines Medizinballs befunden, leer, pechschwarz. Und dabei eigentümlich energiegeladen, als wären sie bewohnt von einem wilden Tier, das davon lebt, alle Materie in sich aufzusaugen. Könnte es auch mich aufsaugen?

Ich hatte einen Stein aufgehoben und ihn geworfen, hörte aber nicht, dass er aufgeschlagen wäre. Ohne ein Ziel zu haben – reisen? Ohne eine Erwartung zu erfüllen – sein?

Dann setzte die Dämmerung ein. Die Dunkelheit hatte sich aufgelöst. Ich erkannte Bergspitzen und Konturen, an denen mein Blick Halt finden konnte. Ich konnte mich immer besser orientieren und hatte dabei das Gefühl zu schrumpfen, je heller meine Umgebung wurde.

Da war mein Entschluss gefasst.

Kapitel 2

Die kleine Ortschaft Matjiesfontein besteht aus einer herausgeputzten viktorianischen Häuserzeile neben einem halb ausgetrockneten Flussbett. Obwohl ich keinen Luftzug spüre drehen sich am Lord Milner Hotel die Flügel der Climax-Windmühle, um Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche zu pumpen. Sonnenvögel saugen mit ihren langen gebogenen Schnäbeln Nektar aus orangefarbenen Aloen-Blüten. Die Erde ist rotbraun wie Rooibos-Tee, die Wege sind mit Bergkristall eingefasst und führen ins Nichts. Zweige eines knorrigen Pfefferbaums beschatten eine kleine Grabplatte mit der Inschrift: Cathy Jenkins. 1932-2002. Ich kam nach Hause.

„Alles kann in Matjiesfontein passieren“, behauptet Cindy, die Rezeptionistin, und Johan, der Hotelmanager, fügt geheimnisvoll hinzu: „In der Karoo sollte man sich gut überlegen, was man sich wünscht“. Ich sitze vor dem Hotel auf einer Bank, kaue an harten Willkommens-Biskuits, trinke warmen Tee, und betrachte die Ibisse, die mit ihren langen Schnäbeln auf einem nahe gelegenen Grasstück nach Würmern stochern. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen gerade erst den höchsten Dachfirst des Hotels, als sich am Horizont die Umrisse eines Zuges bemerkbar machen. Es dauert nicht lange und Johan kommt aus dem Hotel gelaufen, rennt über den Vorplatz zu den Gleisen und bestätigt mit den Armen in Richtung Zug winkend und aufgeregt rufend: „Da kommt er schon!“ Offensichtlich trifft der Luxuszug Rovos Train, der regelmäßig zwischen den Victoria-Wasserfällen und Kapstadt verkehrt, an diesem Tag verfrüht in Matjiesfontein ein.

Im kleinen Bahnhof angekommen, steigen die ersten Passagiere aus und begeben sich auf direktem Weg zu einem rotbemalten doppelstöckigen Bus, der auf dem Vorplatz parkt. Johan fragt mich, ob ich Lust verspüren würde, auch in den Bus zu steigen. „John Theunissen macht gleich seine City Tour, damit die Passagiere des Rovos Train eine Abwechslung finden. Der Zug bleibt zwei Stunden lang in Matjiesfontein“. Johan schaut auf seine Armbanduhr. Ich schaue Johan an: Stadtrundfahrt? Wo? Hier?

Also klettere ich in den 1950er London Routemaster Doppel-Decker-Bus und erlebe, wie John Theunissen, bekleidet mit Frack und Melone, die letzten Gäste zur Abfahrt mahnt, indem er schrille Töne in ein verbeultes Flügelhorn bläst. Der Bus springt etwas bockig an und setzt sich langsam in Bewegung.

„Ich heiße John und ich bin ein Coloured“, beginnt John Theunissen seine Tour. „Mein Vater war weiß, meine Mutter schwarz. Mischt man das, wird daraus ein Cappuccino: Oben weiß“, John zeigt auf seine grauen Haare, „und unten schwarz.“ Er schielt zu seinen frisch polierten Schuhen. Sein Publikum lacht.

Dann erzählt John, dass das Hotel ursprünglich als Krankenstation errichtet worden war und dass es während des Burenkrieges, als über 10 000 Soldaten in der Umgebung kampierten, manch illustren Gästen wie Winston Churchill, Edgar Wallace und dem Sultan von Sansibar als Unterkunft gedient hatte.

„Zur Rechten sehen Sie das Transport Museum mit Oldtimer Autos, und zu Ihrer Linken ist die Kirche, in der Sie zu den Klängen eines alten Klaviers getraut werden können, nur um sich später im Pub zu den Klängen eines anderen Klaviers wieder scheiden zu lassen. Und jetzt fahren wir nach rechts, weil wir links nicht weiterfahren können. It’s showtime!“

Der Bus stöhnt und keucht, er müht sich über den Schotter und wackelt durch tiefe ausgewaschene Furchen, bis er eine große Freifläche erreicht, über die Plastiktüten wehen. „Das ist der Platz, auf dem das erste internationale Cricket-Spiel auf südafrikanischem Boden ausgetragen wurde“, doziert John. „Südafrika spielte gegen Großbritannien. Südafrika gewann. Heute ist hier nichts los, auch wenn der eine oder andere Bewohner von Matjiesfontein schwört, in der dunkelsten Stunde der Nacht auf diesem Platz Aardvarks beim Cricket-Spiel beobachtet zu haben.“ Im Bus erklingt ein dröhnendes Lachen.

Ich stutze. Aardvark?

Da fiel es mir wieder ein. Es war vor vielen Jahren gewesen, kurz nachdem ich meinen Lebensmittelpunkt nach Kapstadt verlegt hatte und meine Freunde und Bekannte darüber informierte. Meine ehemalige Ethnologie-Professorin reagierte mit der Frage, ob ich in meiner neuen Heimat denn auch schon ein Aardvark gesehen hätte. Ich konnte ihre Frage nicht beantworten, fragte aber auch nicht weiter nach. Währenddessen erzählt John weiter:

„Wir haben nun das Ende der ersten Hälfte unserer City Tour erreicht. Wir fahren nach rechts, weil wir links nicht weiterfahren können. It’s showtime!“

Es geht am ehemaligen Gefängnis vorbei, dem Tempel der Freimaurer und einem Wohnhaus mit 25 Zimmern. In einem davon hänge noch immer das erste Telefon des Landes. John bemerkt findig, „dass damit das zweite Telefon im Land angerufen werden konnte.“ Der Bus macht wieder eine Rechtskurve und wir erreichen den Laird’s Arms Pub, den Endpunkt der Stadtrundfahrt. „Wir sehen uns gleich im Pub“, ruft John mit dick aufgetragenem Louis-Armstrong-Slang noch. Die ganze Tour hatte keine zehn Minuten gedauert.

Ich beglückwünsche John zu seinen Erklärungen und den eingestreuten Witzen. „Der Hinweis auf die Cricket spielenden Aardvarks kam beim Publikum besonders gut an.“

„Nun“, antwortet John, „bevor ich mit meinen Touren anfing, gab es hier in Matjiesfontein nicht allzu viel Unterhaltung. Ich wollte, dass die Leute Spaß haben, wenn sie sich schon auf den weiten Weg hierher machen. Jeder weiß, was Cricket ist, aber es ist schwer, jemanden zum Lachen zu bringen, wenn da nichts ist, als ein großes leeres Feld. In gewisser Weise ist dieses große Feld ja ein Symbol für die Karoo.“

„Warum meinst du das?“, hake ich nach.

„Die Karoo sieht auf den ersten Blick wie tot aus, wie ein Stück Wüste, obwohl sie bei näherem Hinschauen ganz lebendig ist und wie eine Schatztruhe funkelt. Es gibt hier viele Pflanzen und Tiere, die man nicht sehen kann, und viele Geschichten, die verloren gehen, wenn man sie nicht erzählt. Das Aardvark ist ein Teil dieses Landes, allein schon, weil es all diese Löcher in die Termitenhügel gräbt. Jeder hat davon gehört, jeder findet, dass das Tier sehr seltsam aussieht, aber kaum jemand hat es leibhaftig gesehen. Diejenigen, die das Glück hatten, werden den Anblick nie vergessen. Aardvarks sind mysteriös, und schon ihr Aussehen, ja sogar ihr Name, bringt die Leute zum Lachen.“

Obwohl ich mir immer noch nichts unter einem Aardvark vorstellen kann, frage ich ihn, ob er eins gesehen habe.

„Einmal ja“, antwortet John, „und nun sehe ich es fast jeden Tag.“

Er macht es mir nicht einfach.

„Es war vor etwa fünfzehn Jahren in der Nähe von Graaff-Reinet, im Ost Kap. Es war früh am Morgen und sehr kalt, als es plötzlich über die Straße lief. Auf der anderen Straßenseite blieb es stehen und schaute mir direkt in die Augen. Es war, als wollte es mir etwas sagen. Ich war total erschrocken, hielt die Luft an und dachte, ich werde sterben. Dann setzte es sich unvermittelt wieder in Bewegung und verschwand.“.

„Und warum jeden Tag …?“

„Komm“, sagt John, „ich zeig dir was.“

Er geht mit mir zum Laird’s Arms Pub und öffnet die Tür. Die Kneipe ist voll besetzt mit Menschen. „John, sing uns ein Lied,“ ruft jemand vom Kamin herüber. Andere prosten sich mit ihrem Frischgezapftem zu. Alle scheinen damit einverstanden zu sein, dass hier der frühe Morgen zum späten Abend gemacht wird. John nimmt einen Schlüssel von der Wand neben dem Bierausschank und gibt mir zu verstehen, dass ich ihm folgen soll. Hinter dem Pub befindet sich ein Raum, an dessen Wänden Köpfe, Felle und Hörner hängen. Inmitten dieser vertikalen Serengeti ausgestopfter Gnus, Rappen-Antilopen, Löwen und Büffeln zeigt er auf den Kopf eines Tieres mit zwei riesigen Ohren, zwei großen Nasenlöchern am Ende eines schmalen Rüssels, und Augen, die mich direkt anschauen. Überhaupt, diese Augen! Sie ziehen mich in den Bann, dabei sind es doch nur Glasaugen. Sie bilden keinen Fremdkörper im Präparat, sondern verschaffen dem ausgestopften Tier eine so ungeheuerliche Energie, als wäre es noch lebendig. Sehen diese Augen vielleicht sogar etwas in mir, das mir selbst fremd ist?

„Das ist ein Aardvark?“

„Genau das ist es“, sagt John. „Es gibt Gerüchte, wonach Mister Logan, der Matjiesfontein gegründet hatte, das Tier schoss. Deshalb nennen wir es auch das Logan-Aardvark. Vielleicht war es aber auch Winston Churchill, der es erlegte.“

Ich nähere mich dem Tier und bewege mich dann zur Seite – ohne dem Blick zu entkommen. Die Augen folgen mir durch den Raum, die Präsenz des Tieres hält mich eigentümlich gefangen. Als ob das Aardvark Kontakt mit mir aufnehmen wolle, als wenn es mir etwas sagen möchte. Ich frage mich, wie es sich erst anfühlen würde, wenn ich in die wachen Augen eines lebendigen Aardvarks schauen würde.

Zurück im Pub spielt John am alten Pianino My Bonnie is over the Ocean. An der Bar bestelle ich einen Portwein der Marke Allesverloren. Neben mir hocken Kevin und seine Freundin Elzanne aus Kapstadt. Noch immer fasziniert von dem Tierkopf an der Wand im Nebenraum, frage ich die beiden, ob sie in ihrem Leben schon ein Aardvark gesehen haben. Kevin räuspert sich: „Natürlich habe ich eines gesehen!“

„Nein, hast du nicht“, korrigiert Elzanne ihn. „Ich habe eines in Namibia gesehen. Du warst dabei, aber du warst viel zu langsam, um es zu sehen.“

„Okay, okay, aber ich las ein interessantes Rezept, wie es gekocht wird“, versucht es Kevin aufs Neue.

„No, man“, stößt Elzanne genervt hervor, „das war kein Rezept für ein Aardvark. Das war eines für Gürteltiere.“

Kapitel 3

Ich verlasse den Pub an jenem Vormittag in Matjiesfontein und spaziere in die Karoo, die mir noch verlassener vorkommt als während der vorherigen Nacht. Ist hier draußen mehr Leben als ich mir ausmalen kann? Wie wäre es, jetzt, genau hier in dieser Landschaft ein Aardvark zu sehen?

Ein Greifvogel kreist über dem Land in großer Höhe. In der Ferne hängen dunkle Fäden an den Wolken. Wird das Wasser, das dort abregnet, das Leben der Wüste erwecken können? Wird der Greifvogel in einigen Tagen die Spuren dieses Regens als grüne Streifen auf der Erde ausmachen? Die Berge scheinen immer mehr in der Ebene zu versinken. Ganz langsam, wie in Zeitlupe. Je aufmerksamer ich sie betrachte, desto mehr scheint es mir, als leuchte die karge Landschaft von innen heraus, als befände sich in diesem Erdreich eine unsichtbare Kraft.

Die Schöpfungskraft. Meist bleibt sie mir verborgen, aber ich weiß, dass es sie gibt. Dass sie alles in dieser Welt mit Leben durchdringt.

Abrupt bleibe ich stehen, denn unmittelbar vor mir befindet sich ein Loch, groß genug, dass ich mit einem Bein hätte hineinfallen können. Vielleicht auch mit beiden. Wohin führen die? Lebt da unten etwas?

Ich setze mich auf einen der vielen großen Termitenhügel, die in der Landschaft aufgetürmt wurden. Manche werden von krabbelnden Termiten bevölkert, manche haben große Löcher, wieder andere liegen einfach nur verlassen da.

Wenige Stunden zuvor noch befand ich mich in einer ganz anderen Welt. Eine Welt, in der ein Tagesablauf aus Arbeit, Fitnessprogramm und etwas Vergnügen vermeintlich ausgewogen gestaltet ist. Maximierung von Geld, Gesundheit und Lebensfreude als treibende Kraft. Alles unter Kontrolle. Doch von wegen! Wenn tatsächlich alles so perfekt wäre, wie kann es dann sein, dass mich nur wenige Stunden später eine  Unruhe mitten in der Nacht aus dem Haus treibt und ich nun hier plötzlich in einer Wüste auf einem Termitenhügel hocke und dabei konkret an nichts so sehr denke, als an ein totes Tier, das mich mit seinen Glasaugen von einer Wand her anstarrte? Offensichtlich ist da noch ein anderes Leben, das gelebt werden will. Eines, das mich in eine Richtung lockt, in der alles ungreifbar und fremd ist.

Inzwischen sticht die Sonne, es ist heiß geworden, ohne Schatten und Zuflucht, nur flache Leere. Also gehe ich zurück nach Matjiesfontein und begegne an der Hauptstraße John. Er hat seinen schwarzen Anzug und die Melone eingetauscht gegen eine weite Hose und ein verschlissenes Unterhemd. Er sitzt auf einer Bank vor einem kleinen Haus und stampft barfuß auf den Boden, während er auf der Gitarre ein schwungvolles Lied spielt, das mich mit seinem Rhythmus an eine Polka erinnert. Als John das Lied beendet hat, verrät er mir, dass die Leute hierzu Sokkie-Sokkie tanzen: „Du weißt schon, Langarm. Man zieht die Schuhe aus und schiebt sich und seine Partnerin über die Tanzfläche. Oder es werden Sägespäne ausgelegt, und alle tanzen barfuß. Dicke mit Dünnen, Große mit Kleinen, Alte mit Jungen, – hier gibt’s keine Unterschiede. Great fun. Wir haben am nächsten Wochenende einen Sokkie-Sokkie. Komm vorbei, wenn du in der Gegend bist.“

Ich danke John für die Einladung, aber schüttle den Kopf. „Ich habe bereits eine andere Verabredung“, sage ich und weiß, dass ich in nächster Zeit weder bei einem Sokkie-Sokkie noch bei meiner Arbeit erscheinen werde. Stattdessen werde ich auf die Suche nach einem Tier gehen, von dem ich kaum etwas weiß. Dessen Namen ich erst einmal vor vielen Jahren gehört hatte. Es ist an der Zeit, mein Glück zu versuchen. Wenn nicht jetzt, wann dann?, rede ich mir zu.

Sehe ich da nicht ein Schmunzeln um Johns Mundwinkel, ein Strahlen in seinen Augen? Was weiß dieser Mann von mir? Ich frage ihn, wo genau ihm sein Aardvark begegnet sei. Obwohl Johns Begegnung mit dem Tier schon viele Jahre zurückliegt, erinnert er sich sofort an die Stelle. „Einige Kilometer außerhalb Aberdeens ist es gewesen, links der Straße die nach Graaff-Reinet führt, unmittelbar vor einem ausgetrockneten Flussbett. Dahinter steigt die Straße an, hinauf zum Valley of Desolation. Das ist Aardvark Country, da bin ich mir sicher.“

Aardvark Country?“, murmele ich nur. Wenn das kein passender Titel meines Roadtrips ist. John zuckt mit den Schultern und schaut an mir vorbei in Richtung Karoo. Dann sagt er, „es dauert zwar eine Weile bis man dort ist, und vielleicht braucht es danach noch eine halbe Ewigkeit bis man das Tier sieht, aber von der Ewigkeit haben wir hier alle mehr als wir denken.

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